Am Pranger!

Schande über uns – über die (fast) ganze Veranstaltungsbranche, über unser Festivalbüro und über das Verhalten von uns allen. Eine kritische Selbstreflexion rund ums Thema Nachhaltigkeit an den Winterthurer Musikfestwochen.

Logisch: Als nicht gewinnorientiertes Festival mit nachhaltigem Anspruch wollen wir die besten Bands der Welt mit dem Velo in die Altstadt fahren, Kultur in unserem neuntägigen kostenlosen Programm allen Bevölkerungsschichten zugänglich machen und dabei am liebsten keinen Abfall produzieren. Wir wollen Haltung einnehmen und vorleben, was wir uns selber von der Gesellschaft wünschen. Nämlich soziale, ökologische und ökonomische Nachhaltigkeit. Dass das in Realität nicht immer ganz so gut funktioniert, hat verschiedene Gründe: Geld, Zeit, Wissen, Wille, Mut, Kommunikation, Transparenz, Sensibilität, Bereitschaft zum Verzicht und Solidarität gegenüber Schwächeren.

Darüber reden ist der erste Schritt. Ein paar Fails im Überblick.

Wir trinken unseren Kaffee nicht mehr aus Einwegbechern, fliegen aber Bands für ein Wochenende von Berlin ein.

Beginnen wir mit dem Thema Mobilität. Laut unserer Umfrage aus dem Jahr 2018 kommen 96% unserer Besucher:innen mit den ÖV, zu Fuss oder mit dem Velo. Eine vordergründig sehr gute Bilanz, wenn man verschweigt, dass Bands für einen einzigen Gig in die Schweiz geflogen werden. Es sind nicht viele: Über 50 % unserer Slots vergeben wir aus Überzeugung an Schweizer Musikschaffende, und wir achten auch darauf, vor allem Bands zu buchen, die auf Tour sind. Trotzdem: Für die Festivalausgabe 2019 verursachten wir 72 Flüge. Das ist ein Entscheid für die programmatische Qualität und im weiteren Sinne für die Ökonomie. Wir glauben, dass unser Überleben davon abhängt. Das ist nicht ökologisch. Dafür die Wahrheit.

Wir sind abhängig vom Konsum.

Kommen wir zum leidigen Thema Konsum: Am ökologischsten wäre es zweifellos, wenn alle unsere Besucher:innen ihre eigenen Flaschen am Brunnen mit Wasser füllen würden. Der Haken: Dieses Szenario ist unser Untergang. Abgesehen davon, dass wir selber nichts gegen ein kühles Bier einzuwenden haben, ist es so, dass wir über einen Drittel des Festivalbudgets – vor allem die 9 Tage kostenloses Programm – mit der Gastronomie finanzieren. Das macht uns bestrebt, Angebote gegen Hunger und Durst optimal auf dem Gelände zu platzieren. Ja, das kostet ein paar Franken mehr als das Bier aus dem Supermarkt – dafür helfen jeder verkaufte Teller und jedes Getränk uns dabei, Kultur für alle möglich zu machen.

Wir vergrössern unser vegetarisches Angebot, verkaufen aber nach wie vor zu viel Fleischgerichte.

Bleiben wir beim Konsum im Gastrobereich. Externe Gastronom:innen bekommen zwar nur einen Stand in der Schlemmerei, wenn sie mit Schweizer Fleisch kochen, vegetarische Mahlzeiten anbieten und mit unserem Mehrwegsystem arbeiten. Komplett vegetarische Stände und nachhaltige Konzepte werden bei der Auswahl bevorzugt. Doch wenn wir ehrlich sind, ist der Verkauf von Würsten, Hamburgern oder Fleisch-Momos deswegen nicht eingebrochen. Wir können es drehen, wie wir wollen – unser Fleischproblem können wir nicht schönreden. Obwohl wir dank unserer Ökobilanz wissen, dass die Gastronomie für 25 % unseres Fussabdrucks verantwortlich ist, sind wir noch nicht viel weiter. Mittlerweile ist die gesamte Verpflegung im Backstage vegan und statt einzelnen Vegi-Tagen in der Helfer:innen-Area gibt’s neu einzelne Fleisch-Tage. Höchste Zeit also, unser Gastro-Konzept zu überarbeiten. Das machen wir im Herbst, versprochen.

Wir versuchen zwar regional einzukaufen, haben aber nicht immer kurze Transportwege.

Auch in den Bereichen Infrastruktur, Deko und Merchandise bleibt das Schwert ein zweischneidiges. Ob Getränke, Essen, Plakate, Flyer, Container, Gitter oder Technikmaterial: Wir produzieren und beziehen traditionell so viel wie möglich regional, um die Transportwege kurz zu halten und das lokale Gewerbe zu unterstützen. Wir wissen hier, dass wir vergleichsweise gut abschneiden. Aber gut ist immer relativ. Es werden nach wie vor Teile der Bühnentechnik durch die ganze Schweiz gefahren – und die Geländeblachen (wir haben viele davon) lassen wir in Deutschland produzieren, weil der Preisunterschied einfach zu gross ist.

Wir verzichten auf Give-Aways, verkaufen aber massenweise Merch-Artikel.

Der Fakt, dass wir Promo-Verteilaktionen von Billig-Einweg-Artikeln auf dem Festivalgelände schon lange ablehnen und unser eigenes Merchandise-und-Giveaway-Angebot eher reduziert halten, macht den Braten nicht feiss. Über unseren Shop wird das ganze Jahr über fleissig Merchandise-Produkte gekauft. Wir sind froh um jeden Franken, den wir da einnehmen, um die Musikfestwochen in einem umkämpften Markt zu stemmen – obwohl sich die Welt auch ohne MFW-Bauchtäschli aus PVC weiterdrehen würde. Klar, die Shirts und Pullis genügen alle einem Mindest-Produktionsstandard (mindestens Ökotex, alle Shirts und die Pullis sind aus Bio-Baumwolle), bei Accessoires sind Herkunft und Produktionsstandards leider noch oft schlecht ausgewiesen.

Wir sagen zwar, Diversität sei uns wichtig, stehen aber intern schlecht da.

Das Thema Diversität wird in der Branche heiss diskutiert. Zu recht, finden wir. Auch wenn wir uns grösste Mühe geben, dass wir Diversitätskriterien wie Gender, sexuelle Orientierung, Herkunft etc. auf der Bühne wie auch hinter der Bühne berücksichtigen, stehen wir noch lange nicht, wo wir wollen. Die gesamte Kulturbranche ist klar von Männern dominiert. Leider sieht es bei uns ähnlich aus. Und zwar überall: Im Büroteam, im OK, im Vorstand. Auch wenn wir im Schweizer Festivalvergleich mit unserer «Frauenquote» gut abschneiden (2022: 54 %), sind wir nicht zufrieden. Denn: Wir berechnen unsere Bühnen-Frauenquote ohne zu wissen, welches Geschlecht weiblich gelesene Künstler:innen für sich definieren. Wir zählen auch nicht die effektive Anzahl Künstlerinnen auf den Bühnen, sondern holen bereits Prozentpunkte, wenn in einer Band mindestens eine weibliche Personen eine prägende Rolle hat. Würden wir die tatsächliche Anzahl FINTA-Personen zählen, sähe es noch schlimmer aus – bei uns, wie bei vielen anderen auch. Und: Wir gewichten eine Band aus dem Hauptwochenende gleich wie eine Strassenmusik-Band oder einen 15-minütigen Slot auf der Startrampe. Naja. Es gibt noch viel zu tun.

Wir möchten barrierefreier werden, kennen aber die genauen Bedürfnisse nicht.

Wenn wir von der Zugänglichkeit unseres Festivals sprechen, bemerken wir immer wieder, wie privilegiert wir sind. Wir wollen unser Festival barrierefreier gestalten, müssen aber ehrlich zugeben, dass wir im Team selbst wenig über die Hürden wissen und vermutlich noch mit vielen Stereotypen und Halbwahrheiten zu kämpfen haben. Wir haben All-Gender-WCs, aber bislang keine ausreichende Signaletik, sodass es immer wieder zu Missverständnissen kommt. Wir haben ein rollstuhlgängiges Gelände, ein Rollstuhl-WC und eine Rollstuhl-Tribüne, lassen unser Gelände aber erst dieses Jahr erstmals kritisch von Rollstuhlfahrer:innen beurteilen. Umso mehr freuen wir uns: Inklusions-Expert:innen von Sensability kommen zu uns und geben uns aus ihrer Perspektive Feedback, wo wir uns noch verbessern müssen.

Am liebsten würden wir nur mit nachhaltigen Partner:innen zusammenarbeiten.

Das ist aber leider nicht die Realität. In einer Idealwelt hätten wir keine Geldsorgen und würden nur mit selbst nachhaltig wirtschaftenden und wertedeckenden Partner:innen und Lieferant:innen zusammenarbeiten. Doch auch wir sind auf finanzielle Unterstützung angewiesen, um das kostenlose Programm zu finanzieren. So kommt es, dass nicht alle unsere Partner:innen unsere idealen Bedingungen erfüllen. Dieses Dilemma beschäftigt uns immer wieder. Wir wägen dann jeweils ab: Wie stark widerspricht die Wirtschaftsweise unserer Partner:innen unseren Werten? Welche Alternativen haben wir? Was sagt unser Budget dazu? Manchmal finden wir eine gute Lösung, manchmal ist es schlichtweg zu teuer. Weder unsere Partner:innen noch wir sind perfekt, wir geben uns auf jeden Mühe in derer Auswahl.

Nachhaltigkeit ist ein Trend, wir machen mit.

Nachhaltigkeit ist gerade trendy und modern. Natürlich finden wir Greenwashing und Rainbowwashing blöd – ob wir dem entgegenwirken oder alles schlimmer machen, können wir aber schlecht abschätzen. Sicher ist: Wir meinen es ernst mit unseren Nachhaltigkeitsmassnahmen, wir wollen unsere Haltung und Werte erlebbar machen. Das Thema verdient viel Aufmerksamkeit und es gibt durchaus schlechtere Modetrends. Wir schneiden im nationalen Branchenvergleich (was Nachhaltigkeit angeht) vielleicht nicht schlecht ab, sind aber selbst noch in vielen Bereichen am Lernen. Nachhaltigkeit ist ein Prozess, der immer weitergeht. Und wir stehen mittendrin. Wir sind sicher weiter als andere, aber auch wir haben noch einen langen Weg vor uns. Wir geben uns Mühe und meinen das auch so. Wir machen aber auch Fehler. Deshalb sind wir froh, wenn du dich mit Ideen, Fragen, Inputs oder konstruktiver Kritik an nachhaltigkeit@musikfestwochen.ch wendest.

 

Unser Fazit: Wir wollen uns in Zukunft noch mehr an der eigenen Nase nehmen und besser werden, wo wir es ökonomisch irgendwie hinkriegen. Und wir freuen uns über alle, die mithelfen, nachhaltige Festivals so schnell wie möglich zur Selbstverständlichkeit zu machen.